Kolumnenreihe „Vatertage“, Folge 1

Spuren von Nüssen
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber mir gibt das tägliche familiäre Leben immer wieder neue Rätsel auf. Ein besonders faszinierender Bereich ist dabei für mich das Thema Ernährung. Vor allem deswegen, weil sich dort seit meiner Jugend extrem viel verändert hat. Oder hatte einer ihrer damaligen Spielkameraden eine Laktoseunverträglichkeit oder eine Kuhmilchallergie? Keinem meiner Freunde schwoll nach dem Verzehr von Erdbeeren die Zunge anschließend zu einem Hefekloß. Ich bin mir sicher in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren hätten die meisten Menschen den Begriff Gluten für die Mehrzahl einer im Ofen schlummernden Glut gehalten. Das einzige unter dem ich als Kind litt, war eine Ohrfeigenunverträglichkeit und eine heftige Zimmer-Aufräum-Allergie. Wenn Sie aber heute einen Kindergeburtstag feiern, müssen sie erst mal einen ausgeklügelten Ernährungsplan aufstellen, der alle allergischen, aber auch religiösen Ernährungsrisiken ausschaltet. Also kaufen Sie für Jasmin-Kimberly Vollkornnudeln, für Ayla ungeschächtetes Rinderhack und für Leon laktosefreie Sahne. Larissa darf keinen Apfelsaft, Joschi auf keinen Fall Ananas und Karl-Friedrich noch keinen Raffineriezucker, denn den bekommt er „aus politischen Gründen frühestens mit 12“, erklärt seine Glucken-Mutter, während schon der nächste besorgte Vater auf mich einredet: „Ach übrigens, Jessie darf nicht raus, wenn Birke, Eibe oder Esche fliegen. Und auf keinen Fall darf sie ohne Unterlage auf Teppichböden sitzen, es sei denn, die sind vorher von einem Spezialunternehmen allergisch grundgereinigt worden. Behandeltes Laminat habt ihr ja nicht verlegt, oder? Davon bekommt Jessie immer einen fiesen Ausschlag und für die Umwelt ist es ohne der Super-Gau“, flötet Jessies Papa, lässt den Motor seines 17- Liter- schluckenden Off-Road-Schlittens aufjaulen und brettert davon, so dass sich einen spontanen Ekel-Ausschlag bekomme. Nicht raus? Kein Laminat? Und kein Teppichboden? Herzlich Willkommen Jessie und viel Spaß die nächsten dreieinhalb Stunden alleine im Badezimmer. Aber gut, alles kein Problem, jeder, wie er will. Das bringt uns kindergeburtstagserprobten Eltern doch nicht aus der Fassung. Dann aber kommt Madison-Marianne, deren Mutter uns klarmacht, dass ihr Sonnenschein unter einer extremen Nussallergie leidet (als wäre der Vorname nicht schon Strafe genug). Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Sie als Eltern eine mittlere Panikattacke bekommen dürfen. Vor allem dann, wenn Sie erfahren, dass Madison-Marianne deswegen schon viermal nur äußerst knapp Gevatter Sensenmann von der Klinge gesprungen ist. Natürlich wissen wir um die Gefahr und wo sich laut Herstellerangaben überall „Spuren von Nüssen“ befinden können. Auf dem Erdbeerjoghurt steht es drauf, auf der Tiefkühlpizza, auf den Mais-Cornflakes, auf der Tafel weißer Schokolade, der Fertigsoße und den Fischstäbchen. Auch Milchmixgetränke und Kakaopulver können „Spuren von Nüssen“ enthalten. Letzteres überrascht auf der Verpackung aber noch mit einem weiteren Warnhinweis: „Kann Spuren von Milch enthalten“, steht da kleingedruckt auf der Pulverpackung. Ja und? Wo ist das Problem? Ich bereite die heiße Schokolade für meine Kinder ohnehin stets mit Orangesaft zu. Milch kommt mir da nicht in den Kakao. Egal. Sie fragen sich, was es auf dem Geburtstag für die Kinder dann letztendlich zu Essen gab? Einen linksdrehenden Tofu-Joghurt aus heimischen Biokulturen, zweifach gefiltertes stilles Wasser aus Lourdes und als besonderes Schmankerl ein fair-gehandeltes Bio-Traubenzuckerplättchen aus der Apotheke. Für den leider erst elf Jahre alten Karl-Friedrich gab es alternativ einen Löffel Soja-Honig. Meine Frau und ich haben dann am späten Abend die unberührte Sahnetorte und die Großpackung Backofen-Pommes samt den Wiener Würstchen gegessen. Was man nicht alles macht, um seine Kinder zu behüten. Am noch späteren Abend fanden wir dann in unserem Badezimmer „Spuren von Larissa“, die wir dort völlig vergessen hatten, deren Eltern aber das omniallergische Kind offenbar auch noch nicht vermisst hatten. Warum auch? Übrigens: diese Zeilen können Spuren von Ironie, Satire oder gar Zynismus enthalten. Ich hoffe, Sie sind dagegen nicht allergisch.
© Martin Guth, 2015

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