Der gemeine Bücherwurm
Wie sicher einige von Ihnen, haben auch wir daheim ein Haustier. Allerdings keinen Hund, keine Katze, keinen Vogel und auch keine kleinen Nager. Nein, es ist ein ganz spezielles Haustier, das in den letzten Jahren eine beachtliche Metamorphose vollzogen hat. Geboren als normale „Tochter“, hat es sich ab dem fünften Lebensjahr durch beständiges Füttern und gute Pflege zu dem entwickelt, was der lateinaffine Zoologe am ehesten als „liber vermis“ bezeichnen würde, einen gemeinen Bücherwurm. Also „gemein“ nicht im Sinne von „fies“, sondern im Sinne von „herkömmlich“. Wobei exakt dies unser Bücherwurm gerade nicht macht, wenn man ihn ruft, nämlich herkommen. Er registriert es nicht einmal, wenn man ihn aus einem Meter Entfernung ins Ohr brüllt, so tief hat er sich in sein Futter verbissen. Kurzum, er ist zwar anwesend, aber nicht da. Oder umgekehrt. Dass dieses gefräßige Geschöpf überhaupt noch am Leben ist, merken wir elterlichen Herrchen und Frauchen lediglich daran, dass es überall angefutterte oder fertig ausgesaugte Bücher in Küche, Wohnzimmer oder Bad turmhoch gestapelt liegen lässt oder als Trophäe ziellos durchs Haus trägt, wie eine Katze die erlegte Maus. Jaja, jetzt ich höre Sie da draußen an den Zeitungen schon sagen: „Ist doch toll, wenn das Kind gerne liest“. Das stimmt prinzipiell ja auch und ich will hier nicht über die Maßen kokettieren, aber wenn unsere Leseratte pro Woche drei mitteldicke (inhaltlich eher dünne) Teeniebücher für 12,95 Euro das Stück vernichtet und umgehend vehement Nachschub verlangt, dann ist das – auch rein finanziell gesehen – nicht wirklich witzig. Nur gut, dass es in vielen Städten eine Anlaufstelle für diese Art von Abhängigen und deren mitbetroffenen Familien gibt. Gemeint ist das Amsterdam der Buchstaben-Süchtigen, der Drogen-Umschlagplatz für Literatur-Junkies, der Ort, wo legale Geschichten-Dealerinnen Angefixten ehrenamtlich neuen Stoff unter die Nase reiben. Die Rede ist von der guten alten Stadtbibliothek. So wie andere Menschen beim „Lidl Super-Samstag“ die Diskountermilch barrelweise nach Hause schleppen, wuchten wir alle zwei Wochen mehrere hochvoll beladene Leinentaschen aus der Bücherei, mit denen sich unser wortgieriges Haustier sogleich in seinen hermetisch abgeriegelten Bau verzieht. „Willst du nachher nicht mal ein bisschen rausgehen, es ist so schönes Wetter“, schlage ich unserem Buchstabennager drei Tage später vor, als wir uns – eher zufällig – bei der Nahrungsaufnahme der Normalsterblichen, dem Mittagessen, treffen „Wie? Rausgehen?“, fragt der Geschichtenfresser verstört, ohne dabei auch nur für eine Millisekunde das Lesen zu unterbrechen. „Na, eben einfach ´mal raus an die frische Luft“, erläutere ich meinen gutgemeinten Vorschlag und ernte erwartungsgemäß wieder nur verständnislos verdrehte Augen. „Das ist wie Fenster-Aufmachen, nur viel krasser“, versuche ich meiner Tochter den Freiluftevent jugendsprachlich schmackhaft zu machen. Und tatsächlich, es funktioniert. Während sie mit dem einen Auge weiterliest, tastet sie mithilfe des anderen nach der Balkontür und begibt sich ins Freie. Dort legt sie sich nach einem Achteinhalb-Meter-Marathon-Marsch für die nächsten 350 Seiten auf die polsterlose und splitterüberzogene alte Holzliege. Eine kluge Wahl, denn bis zum luxuriösen Wellness-Komfortsofa wären es ja noch sechs weitere, mühsame Meter gewesen. Die alte Holzpritsche ist allerdings so unbequem, dass unsere Tochter alle 50 Seiten unter enormer Anstrengung die Leseposition wechseln muss, um sich nicht wund zu liegen. Dies wiederum stellt für einen trägen Bücherwurm schon ein umfangreiches Sportprogramm dar, wie sie durch ihr theatralisch lautes Ächzen nicht nur uns, sondern auch gleich der gesamten Nachbarschaft eindrucksvoll vermittelt. Trotzdem lächeln meine Frau und ich unsere Tochter zufrieden an. Ich meine, welche Eltern freuen sich nicht, wenn ihr Kind wenigsten alle drei Tage mal so richtig ins Schwitzen kommt.
© Martin Guth, 2015